Der Ausblick ist wirklich wunderschön. Der Abgrund, der in die Tiefen des Elbtals geht, ist nur ein paar Schritte entfernt und gibt den Blick auf viele Felsformationen frei. Franziska ist völlig erschöpft und sucht sich einen Platz, an dem sie sich setzen kann. ‚Eigentlich doch ganz nett hier‘, denkt sie sich und ist für einen Moment nicht mehr von „Willi“ genervt, wie er inoffiziell von allen genannt wird. Erst seit ein paar Monaten ist er Klassenlehrer. Und: Er ist Wanderfreak. Das wurde bei der Entscheidung, wo die Klassenfahrt hingehen solle, schnell deutlich. Alle fanden die Idee super, nach Amsterdam zu fahren. Willi schien zwar nicht zu begreifen, dass ein wichtiger Grund für diesen Vorschlag grün ist und in kleinen Tütchen verkauft wird. Trotzdem wurde Wandern durchgedrückt und nun steht der Großteil der elften Klasse ziemlich entnervt inmitten der Sächsischen Schweiz.
Franziska wollte nicht mitkommen, weil sie keinen Bock auf die ostdeutsche Provinz hat. Hier fährt sie eigentlich nur hin, wenn es einen Naziaufmarsch gibt und ihre zwei Freunde von der Antifa sie dazu motivieren, zur Gegendemonstration mitzukommen. Doch Anna – eine Mitschülerin, mit der sie seit einigen Monaten immer enger befreundet ist – hat sich, nachdem die Sächsische Schweiz als Reiseziel durchgedrückt war, krankschreiben lassen. „Ich fahr da nicht hin, das ist zu gefährlich für mich“, diesen Satz hat Franziska seitdem im Kopf. Als Weiße, die immer als deutsch wahrgenommen wird, war das für sie neu. Franziska wollte nicht in die Sächsische Schweiz, weil sie Naturerlebnissen nicht so viel abgewinnen kann, deutsche Dorfkultur abschreckend findet und lieber neue Städte erkundet. Doch für Anna, die nicht weiß ist und nie als Deutsche durchgeht, scheint es Grenzen in Deutschland zu geben, die Franziska nicht bewusst sind. Bei der Ankunft ist ihr das sehr deutlich geworden: Als sie den Bahnhofsvorplatz betreten, fällt ihr im Vorbeigehen das „Thor Steinar“-Basecap auf, das die eigentlich sympathisch wirkende junge Mutter trägt, die in Richtung Bahnhof läuft. Hmm, junge Mütter, die mit Klamotten von Neonazi-Labels rumlaufen? Die Gruppe, die sie da abholt, gleicht eher einem Gruselkabinett, das die restliche Collection des Basecaps zu tragen scheint. Franziska hatte sich ein bisschen erkundigt. „Die Sächsische Schweiz?“ meinte Anna, „da weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.“ Dann berichtete sie, dass in einem Dorf 25 Prozent die NPD gewählt haben, diese Partei sogar im Landtag sitzt, es sehr gefestigte Nazi-Strukturen gibt, die mit Gewalt und Übergriffen versuchen, „national befreite Zonen“ zu schaffen, in denen es nur noch weiße, deutsche Menschen gibt, die den rechten Konsens nicht infrage stellen. Seitdem ist Franziska nicht nur davon genervt, dass sie diesen Wanderschwachsinn mitmachen muss, sondern, dass sie Teil dieser Gruppe von weißen Armleuchtern ist, die nicht im Entferntesten auf die Idee kommt, sich im Vorfeld über Annas Perspektive Gedanken zu machen.
Richtig los geht es aber erst, nachdem sie am Abend der ersten Wanderung zurückgekommen sind. Franziska kann ihr Entsetzen nicht verbergen, als fast alle aus der Gruppe das noch übrig gebliebene Hirn bereitwillig gegen Deutschland-Fahnen, -Schminke, -Armbänder und -Trikots eintauschen, um zum nächstgelegenen Public Viewing aufzubrechen. Sie hatte ja diesen Artikel für die Schülerzeitung geschrieben. Deutschland sei eine Erfindung, die sich erst im 19. Jhd. herausgebildet habe, ebenso das „deutsche Volk“. Der Prozess dieses „Erfindens“ sei in Deutschland untrennbar mit Kolonialimus, Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust verbunden gewesen. Zudem gebe es kein einziges sinnvolles Argument für dessen Fortbestehen, so hatte sie geschrieben. Seit der Veröffentlichung ist sie mehrmals die Woche in leidige Nationalismus-Debatten verstrickt. Und auch diesmal ist ihr Unvermögen, den Schock aufgrund des Deutschlandwimpelmeeres zu überspielen, der Anstoß zur Diskussion. „Also ich bin auf jeden Fall für Deutschland“, legt Willi vor, „und finde es super, dass es seit 20 Jahren wiedervereinigt ist und keine Grenze mehr hat“. Stolz präsentiert er dazu ein T-Shirt mit der Aufschrift „20 Jahre grenzenlos“. ‚Welche Merchandise-Geschmacklosigkeiten man sich so ausdenken kann …‘, denkt Franziska und versucht, sich zu sortieren.
Eigentlich hat Franziska alle Argumente irgendwann schon einmal in die Diskussion geworfen und dabei immer versucht, möglichst verständlich zu sein: Dass sich unter die deutsche Geschichte des Nationalsozialismus nicht einfach ein Schlussstrich ziehen lässt, zeigt die rechte und rassistische Gewalt nur zu deutlich. Die Idee des deutschen „Volkes“ kann es nur geben, wenn andere gewaltsam ausgeschlossen sind, indem beispielsweise schwarze Menschen nicht als Deutsche anerkannt werden. Diesen alltäglichen Rassismus gibt es gerade wegen der blöden Idee „Deutschland“. Und die deutsche Nation ist ein wichtiger Teil der kapitalistischen Ökonomie. Sie muss als Ganzes gegen andere Nationen konkurrieren und ist so an der Armut in anderen Ländern mit beteiligt. All diese Argumente hat sie angeführt, erklärt, wiederholt … und ist auf Unverständnis und Abwehrreaktionen gestoßen. Manchmal hat sie angefangen, sich selbst unsicher zu fühlen und an ihren Positionen, die sie sehr einleuchtend findet, zu zweifeln.
Und nun ist dieses „20 Jahre grenzenlos“-Shirt in ihr Blickfeld gerückt. ‚Am Auffälligsten ist‘, denkt sie sich‚ ‚dass die Betroffenheit um die Toten an „der Mauer“ und der Jubel um deren Ende vollkommen schizophren ist‘. Wie kann denn der Mauerfall bejubelt werden, wenn jedes Jahr 7.000 Menschen abgeschoben werden und Europa Grenzen besitzt, die der „Mauer“ in nichts nachstehen? Sie fand die Bezeichnung „Festung Europa“, die sie mal gehört hat, sehr passend. Seit den 1990ern sind fast 15.000 Menschen an europäischen Grenzen gestorben. Erst baut Europa in mehreren Jahrhunderten materiellen Reichtum durch koloniale Ausbeutung auf. Und wenn jemand kommen und davon was abhaben will, wird mit gewaltvoller Abschottungspolitik reagiert. Eigentlich basiert der heutige Reichtum in den westlichen Ländern nicht nur auf der kolonialen Vergangenheit. Im „freien“ Kapitalismus führt die koloniale Vergangenheit heute immer noch dazu, dass die westlichen Nationen besser dastehen und davon profitieren. ‚Das führt vielleicht ein bisschen weit‘, denkt sie und versucht, sich wieder auf den Trachtenverein in schwarz-rot-gold, der vor ihr steht, zu konzentrieren.
Besonders widerlich findet Franziska den 20 Jahre grenzenlos-Slogan auch, seit sie auf der Adriano-Gedenkdemo war und ein Bild vom wiedervereinigten Deutschland bekommen hat, welches Willis T-Shirt-Motiv völlig entgegensteht. Alberto Adriano, ein schwarzer Deutscher aus Dessau, war im Jahr 2000 von drei Neonazis zusammengeschlagen worden und später an seinen Verletzungen gestorben. Auf der Demo wurde gesagt, dass es nach der Wiedervereinigung eine riesige Welle an rechter Gewalt gab. Unzählige Menschen sind Opfer dieser geworden, über 150 Menschen wurden wie Adriano getötet. Es gab Pogrome gegen Asylbewerberheime, bei denen „ganz normale Deutsche“ dabeistanden und applaudiert haben. Das ist 20 Jahre grenzenlos?
Während Franziska weiter vor sich hin sinniert, wirft sich der schwarz-rot-goldene Karnevalsverein vor ihrer Nase die nationalistischen Bälle gegenseitig zu, um sich in seiner Deutschlandliebe zu bestätigen. Sie fühlt sich verloren und hat keine richtige Lust, in diese Diskussion einzusteigen. Alle erwarten, dass sie wieder die selbe Kritik anbringt, und schielen zu ihr herüber. ‚Warum soll ich mit denen diskutieren?‘ fragt sie sich. Das Problem ist doch nicht, dass man keine guten Argumente hätte. Grund ist auch, dass die anderen in einer mächtigeren Position sind. ‚Der Trachtenclub hat Millionen von anderen Fußballfans hinter sich, die allgemeine öffentliche Meinung, die 20-Jahre-Wiedervereinigungs-Propaganda und alles möglich andere‘, denkt Franziska und erinnert sich an ihren Mitschüler Daniel. Der war nach einer dieser leidigen Diskussionen zu ihr gekommen und meinte, dass er ähnlich denke wie Franziska. „Warum hast du nicht selbst was gesagt?“ hatte sie ihn gefragt. „Ich hab den Eindruck, dass das sowieso nichts bringt. Außerdem fühle ich mich zu unsicher“. Daran denkt sie noch, als sie sich überlegt, was sie jetzt machen soll. Sie hat wirklich keine Lust, wieder in Erklärungsnot zu kommen und sich so ausgequetscht zu fühlen. Also dreht sie den Spieß einmal um: „Wofür braucht man denn so eine nationale Identität?“ startet sie und lässt sich alle möglichen einfachen, manchmal noch etwas ungeschickten, provokanten, rhetorischen und blöden Fragen einfallen. Die anderen sollen mal ihre Ansichten erklären, was sie nicht wirklich können. Denn schon zu der ersten Frage gibt es keine sinnvolle Antwort.