Ziemlich extrem

Die „Extremismustheorie“ und der verschärfte „Kampf gegen den Linksextremismus“

(der Text ist von 2010, aktuellere Texte zur Extremismustheorie haben wir hier: Verfassungsschutz-Broschüre)

„Linksextreme“ stehen momentan im Fokus vieler Medien sowie der schwarz-gelben Bundesregierung. Insbesondere das häufige Abbrennen teurer Autos in Berlin und Hamburg wird zum Anlass genommen, über ein „eskalierendes linksextremistisches Gewaltpotential, das sich terroristischen Vorgehensweisen annähert“ zu berichten und linke Aktivist_innen mit Nazis in einen Topf zu werfen. So kramte beispielsweise der Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) ganz tief in der Geschichte Westdeutschlands der 1950er Jahre. In Anlehnung an einen berühmten Ausspruch zu Zeiten des bleiernen Antikommunismus bezeichnete er Linke als „rotlackierte Faschisten“. Die Bundesregierung krempelt gleichzeitig die Fördermittel für Anti-Nazi-Initiativen um. Sie stellt nun allen Ernstes Gelder, die bisher in Anti-Nazi-Projekte geflossen sind, für Projekte gegen „Extremismen jeder Art … unter Berücksichtigung der Bekämpfung linksextremistischer und islamistischer Bestrebungen“ (schwarz-gelber Koalitionsvertrag) zur Verfügung.
Natürlich halten wir es für ausgemachten Unfug, so verschiedene politische Richtungen als „wesensgleich“ zu bezeichnen.Doch solche Gleichmacherei ist leider weit verbreitet – zum Beispiel im Unterricht im Rahmen der „Demokratieerziehung“. In diesem Artikel setzen wir uns deshalb mit den Argumentationsmustern der sogenannten „Extremismustheorie“ auseinander.

Kurvendiskussion?
Was sagt die Extremismustheorie eigentlich genau aus? Kern ihrer Argumentation ist, dass – ähnlich wie bei der Kurvendiskussion – von Extremen ausgegangen wird. Diese Extreme weichen in diesem Fall von einer angeblich „demokratischen Mitte“ ab. Die politischen Extreme hätten zwar nicht genau die gleichen politischen Forderungen, seien jedoch „wesensgleich“. Dies zeige sich z.B. daran, dass Extremist_innen grundsätzlich den „demokratischen Verfassungsstaat und seine fundamentalen Werte und Spielregeln“ ablehnen würden.

Die momentane Bundesfamilienministerin Schröder veranschaulicht diese Sichtweise z.B. mit der Behauptung „Rechts- und Linksextremismus seien wie das Ende eines Hufeisens, weit auseinander und doch nah zusammen“. Abweichungen von der Mitte des Hufeisens – um im Bild zu bleiben – sind deshalb nach Ansicht der Vertreter_innen der „Extremismustheorie“ undemokratisch und illegitim.
Unter dem „demokratischen Verfassungsstaat“ verstehen die Vertreter_innen der „Extremismustheorie“ – ob Politiker_innen, Cops oder Wissenschaftler_innen – natürlich einfach ganz genau die Staatsform, die wir momentan haben. Auch unter Demokratie können sie sich nichts anderes vorstellen als eine parlamentarische Demokratie, also eine Regierungsform, in der die Menschen gar nicht selbst entscheiden, sondern lediglich alle vier Jahre das Recht haben, darüber abzustimmen, wer in Zukunft über sie regiert.

Die „demokratische Mitte“ verorten sie zudem selbstverständlich dort, wo sie selbst stehen. Dies ist schon ein erster Hinweis darauf, dass die „Extremismustheorie“ vor allem dazu da ist, einen Staat zu legitimieren, der abseits seiner selbst definierten „politischen Mitte“ keine anderen Gesellschaftsentwürfe duldet. Sichtbar wird dies z.B. daran, dass bestimmte Meinungen je nach herrschenden politischen Ansichten mal als legitim und mal als illegitim angesehen werden. So war es Anfang der 1990er Jahre auch für viele Personen aus dem politischen Mainstream vollkommen unvorstellbar, dass deutsche Soldat_innen Kriege weltweit führen würden. Heutzutage gilt eine grundlegende Kritik hieran bereits als „extremistisch“ und steht damit außerhalb des „demokratischen Konsens“.

Gleichzeitig verdeckt die „Extremismustheorie“, dass Rassismus und Nationalismus keineswegs nur bei „Rechtsextremen“ vorzufinden sind. Vielmehr haben sie auch und gerade in der selbsternannten politischen Mitte der Gesellschaft ihren festen Platz. So belegen Studien jedes Jahr aufs Neue, dass ein sehr großer Teil der Bevölkerung in Deutschland feste Vorurteile gegen Menschen aus anderen Ländern hat – die meisten dieser Menschen würden sich niemals als „rechts“ bezeichnen und wählen bürgerliche oder sogar sich als links verstehende Parteien. Nach einer Studie des Politikwissenschaftlers Heitmeyer meinen 64,1 Prozent der Bevölkerung, dass in Deutschland zu viele Ausländer_innen leben würden, 32 Prozent sind sogar der Ansicht, dass „wir es uns in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht leisten können, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben“. Durch das Gerede von den „Extremisten“ kann dies aber alles schön ausgeblendet und eben z.B. Rassismus nur als Phänomen eines gesellschaftlichen Randes wahrgenommen werden.

Goldbraun aufgebacken
Die „Extremismustheorie“ ist hierbei nichts Neues – sie war vielmehr schon ziemlich staubig und wird momentan nur neu aufgebacken. Historisch fußt sie auf der sogenannten Totalitarismustheorie. Mit dieser Theorie wurde in Deutschland insbesondere in Zeiten des Kalten Krieges der „Nationalsozialismus“ und die sich selbst als kommunistisch bezeichnenden Regimes des Warschauer Paktes gleichgesetzt. Auch wenn sich bestimmte Merkmale der Regime wie z.B. militärische Massenaufmärsche in der Tat ähnlich waren, unterschieden sie sich in ihren Ursachen, ihrer Stoßrichtung und letztlich auch in der Form, wie sie zugrunde gingen, doch ganz gewaltig voneinander. So war am Ende des „Nationalsozialismus“ Europa vollkommen zerstört und als Konsequenz des eliminatorischen Antisemitismus über sechs Millionen Jüdinnen und Juden umgebracht. Etwas Vergleichbares aus der Vorstellung heraus, Menschen wären aufgrund festgeschriebener Kriterien weniger wert und müssten deswegen getötet werden, gab es in der Sowjetunion nicht (auch wenn es in der Sowjetunion teilweise starken Antisemitismus gab, zum Realsozialismus und dessen Verfolgungspraxis gegenüber seinen politischen Gegner_innen haben wir an anderer Stelle ziemlich Unfreundliches gesagt: Wie wir leben wollen oder: Projekt K)

Die „Totalitarismustheorie“ diente deshalb während der Ost-West-Auseinandersetzung primär dazu, linke Oppositionelle in der BRD zu diskreditieren. Den protestierenden Student_innen von 1968 wurde zum Beispiel häufig vorgeworfen, einen autoritären Staat aufbauen zu wollen.

Und was setzen wir dem entgegen?
Die oben aufgezeigten Versuche der Bundesregierung, rechts und links gleichzusetzen, haben in den letzten Monaten viele Proteste hervorgebracht. Insbesondere zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Nazis protestieren zu Recht dagegen, dass sie sich, um weiterhin staatliche Mittel für ihre Arbeit zu erhalten, vor den Karren einer konservativen Bundesregierung spannen lassen sollen. Auffallend ist hierbei, dass viele Kritiker_innen der „Extremismustheorie“ trotzdem immer wieder Elemente dieser reproduzieren. So impliziert z.B. das Wort „Rechtsextreme“, dass es gleichzeitig auch „Linksextreme“ geben muss, die ebenso „extrem“, aber eben links seien.

Gerade in einer Zeit, in der der Kapitalismus wieder mal seine offensichtliche Unfähigkeit gezeigt hat, die Bedürfnisse der Menschen sinnvoll zu befriedigen, ist es aus unserer Sicht unabdingbar, eine tiefgehende Kritik an ebendiesen Verhältnissen zu äußern. Insofern ist unsere Kritik durchaus „radikal“: Sie will das Problem nicht nur oberflächlich behandeln (wie etwa sozialdemokratische Kritiker_innen des Neoliberalismus dies immer wieder versuchen), sondern das Problem an der Wurzel (lateinisch „radix“) packen. Hierzu gehört in erster Linie, sich über andere, vernünftige Wirtschaftsformen Gedanken zu machen. Ebenso gehört dazu, Entscheidungsformen für unsere Gesellschaft zu finden, bei denen nicht nur alle vier Jahre einfach durch Wahlen entschieden wird, wer in den nächsten vier Jahren über uns bestimmt. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir wie (Neo-)Nazis einen diktatorischen Führerstaat einführen wollen, sondern ganz im Gegenteil: dass wir für eine Demokratisierung aller Lebensbereiche eintreten. Ob in der Familie, beim Arbeiten oder in der Schule – in den Bereichen, die uns betreffen, wollen wir auch das Recht haben, gemeinsam über unser tägliches Leben zu entscheiden. Denn: Wieso soll der Familienvater, der/die Chef_in oder der/die Lehrer_in das Recht haben, uns vorzuschreiben, wie wir uns am Schreib- oder am Küchentisch zu verhalten haben?

Wenn Leute, die sich für diese Ziele einsetzen, als „Verfassungsfeinde“ gebrandmarkt werden, dann wirft dies aus unserer Sicht eigentlich nur ein ziemlich mieses Licht auf die Verfassung, nicht jedoch auf diejenigen, die sich auf die Suche nach einer vernünftigen und wirklich demokratischen, selbstbestimmten Gesellschaft machen. Die „Extremismustheorie“ wirft also unwissenschaftlich mit politischen Kampfbegriffen um sich und arbeitet mit bloßen Kategoriesierungen. Sie kreiert lediglich eine vermeintliche politischen Mitte und dient der Aufrechterhaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Zum Weiterlesen:
Die „INEX, Initiative gegen jeden Extremismusbegriff“ war eine politische Initiative, die sich kritisch mit der „Extremismustheorie“ auseinandersetzte. Auf ihrer nicht mehr betreuten Webseite findet Ihr viele weitergehende Artikel: http://www.inex.blogsport.de

Wolfgang Wippermann: „Die Begriffe ‚Extremismus‘ und ‚Radikalismus‘“, in: Jungle World, dossier 10/2009.
http://jungle-world.com/artikel/2009/10/32822.html

Antifaschistisches Infoblatt #86 zum Thema „Extremismus“