Oder: Was an der „Entdeckung“ Amerikas nicht stimmt. Was „Edeka“ mit dem deutschen Kolonialismus zu tun hat. Warum „schwarz“ und „weiß“ keine Farben meinen.
Wenn Deutschland ein bisschen über 100 Jahre ist und schon immer in dieser Zeit nicht-weiße Menschen hier gelebt haben, warum denken die Leute dann eigentlich, dass nur die Weißen deutsch sind? Wenn eine x-beliebige Person gefragt wird, wie sie sich eine_n Deutsche_n vorstellt, dann entgegnet sie meist: „Blond und blauäugig“. Will ein Großteil der Deutschen Joseph Goebbels die Stelle als Propagandaleiter streitig machen, der im Nationalsozialismus dafür zuständig war, so einen Blödsinn zu verbreiten? Scheinbar findet sich das Wissen der Nazis immer noch wie selbstverständlich in unseren Vorstellungen. Menschen, die nicht als weiß angesehen werden, werden täglich als „Ausländer“ oder „Migranten“ beschimpft und müssen sich jeden Tag fragen lassen, wo sie herkommen. Einige Rapper, durch die der Hip Hop in Deutschland entstanden ist, haben immer wieder genau darüber getextet. Torch von Advanced Chemistry schrieb, dass er in Deutschland geboren ist, einen deutschen Pass hat und sich trotzdem fremd im eigenen Land fühlt. „Wo kommst du her?“ „Aus Heidelberg.“ „Nee, ich mein jetzt, so wirklich.“ Oder, wie es der Berliner Buchautor Mutlu Ergün beschreibt:
Was meint der gemeine Teutone mit dieser Begrüßungsformel: „Wo kommst du her?“ Hinter dieser Frage verbirgt sich kein wohlmeinendes Interesse. Um die germanische Denkweise zu veranschaulichen, verwende ich den neandertalischen Satzbau. „Wo kommst du her?“ bedeutet: „Du nicht Weiß. Weil du nicht Weiß, du nicht sein kannst deutsch. Also: Wo kommst du her? Ich sein Weiß, ich schon vorher hier, du gekommen später. Weil ich schon vorher hier, ich mehr Rechte.“ Außerdem impliziert die Frage „Wo kommst du her?“ gleich die zweite Frage: „Wann gehst du wieder zurück?“
Hier wird mal wieder deutlich, dass die Nation an sich etwas extrem Unschönes ist, ohne die es sich viel besser leben ließe.
Aber zurück: Warum diese absurde Annahme mit deutsch gleich weiß, wenn es Millionen von Deutschen gibt, die als nicht-weiß gelten? Wenn man das herausfinden will, muss die Geschichte des Kolonialismus betrachtet werden. Um 1500 haben die Europäer_innen damit angefangen, fast die ganze Welt zu erobern. Die größten Mächte waren Frankreich, Spanien, Großbritannien, Portugal und die Niederlande. Du hast das sicherlich schon im Geschichtsunterricht gehört. Es gab diese grauenvollen Sachen wie den Dreieckshandel, wo Menschen aus Afrika versklavt und nach Amerika transportiert wurden und das verdiente Geld nach Europa kam. Zudem gab es unzählige Genozide, in denen sehr, sehr viele Menschen ermordet wurden. Kurz gesagt: Die Europäer_innen sind in die ganze Welt ausgezogen und haben sich wie die letzten Unmenschen benommen. Doch dabei gab es ein moralisches Problem. Denn gleichzeitig mit dem Kolonialismus entstand in Europa die Aufklärung, in der darauf gepocht wurde, dass nicht alles was die Kirche sagt und was in der Bibel steht, für wahr genommen werden soll. Diese Aufklärer_innen hatten keinen Bock mehr auf die unterschiedlichen Stände (Bäuer_innen, Kaufleute, Bürgertum, Adel), weil dadurch sehr viele Menschen unterdrückt wurden und gelitten haben. Also wurde gesagt, dass alle Menschen gleich sind. Vielleicht erinnerst Du dich noch an den Ausspruch von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, der aus der französischen Revolution hervorgegangen ist.
Wie konnte nun aber der Kolonialismus gerechtfertigt werden, wenn die Gleichheit aller Menschen gefordert wurde, gleichzeitig sich aber die Minderheit der Europäer_innen an der Ausbeutung eines Großteils der Weltbevölkerung bereichert hat? Ganz einfach, es entstand das Konzept der „Rassen“. Damit wurde fälschlicherweise behauptet, dass es unterschiedliche Menschengruppen gibt, die unterschiedliche biologische Eigenschaften, wie unterschiedliche Tugenden oder Intelligenz hätten. Klar gibt es Unterschiede zwischen Menschen. Doch dass diese an zum Beispiel Hautfarbe festgemacht werden und nicht an Fußgröße oder Form der Ohrläppchens, ist willkürlich. Und die Behauptung, dass es klare Grenzen zwischen diesen Gruppen gäbe, ist schlicht falsch. Selbst die Biolog_innen sprechen heute von einer Kontinuität menschlicher Vielfalt ohne eindeutige Grenzen. Also, die Menschen sind in dem Konzept der „Rasse“ auf einmal doch nicht mehr gleich. Die Parole der französischen Republik gilt nun nur noch mehr oder weniger für die weißen Menschen – um genau zu sein, galt die die Parole nur für weiße Männer. Damit: Widerspruch gelöst.
Deutschland hat auch so eine Kolonialgeschichte – auch wenn das im Geschichtsunterricht gerne ausgelassen wird. Auf den Gebieten des heutigen Togo, Ghana, Kamerun, Nigeria, Tschad, Tansania, Ruanda, Burundi, Neuguinea, Mikronesien, Papua-Neuguinea, Samoa, China, Mosambik und der Zentralafrikanischen Republik hatte es von 1884 bis 1919 Kolonien. Diese Herrschaft setzte Deutschland mit blutiger Waffengewalt durch. Eines der grauenvollsten Ereignisse der Kolonialzeit spielte sich in den deutschen „Schutzgebieten“ ab: der Genozid an den Herero und Nama, die sich gegen die deutsche Herrschaft gewehrt haben.
Noch heute ist diese Geschichte des Kolonialismus in Deutschland präsent. So sind zahlreiche Straßennamen nach deutschen Generälen aus den Kolonien benannt. Manche Straßen tragen sehr rassistische Namen oder verehren frühere Kolonialgeneräle. Zum Beispiel trägt eine Straße sowie eine U-Bahn-Station in Berlin die Bezeichnung „Mohr“, einem Begriff, mit dem schwarze Menschen sehr abwertend bezeichnet wurden und werden. Der unscheinbare Name der Ladenkette Edeka bedeutet „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“. Sie war ein Zusammenschluss von Händler_innen, die mit Kolonialwaren nicht nur aus den deutschen Kolonien im 19. Jhd. gehandelt haben.
Eine Folge dieser kolonialen Geschichte ist, dass wir mit ziemlich viel rassistischer Ideologie vollgepumpt werden. Früher haben wir in der Kita ganz selbstverständlich „Zehn kleine Negerlein…“ gelernt, ein Lied, welches schwarze Menschen rassistisch abwertet, besser gesagt: gewaltvoll beschimpft. Im Geschichtsbuch in der Schule steht heute immer noch „Entdeckung Amerikas“, so, als ob die Menschen, die vor Columbus dort gelebt haben, keine richtigen Menschen gewesen seien. Denn könnte von der Entdeckung Deutschlands gesprochen werden, wenn jemand das erste Mal hierhin reist? Wenn im Biologiebuch „der Mensch an sich“ abgebildet ist, dann ist das in fast allen Fällen ein weißer Mann. Die weißen Männer, der Nabel der Welt?
Europa wird als der Hort alles Guten und Zivilisierten verstanden. Fast niemand weiß, dass beispielsweise die Seife, ein Ding, welches als eine der Errungenschaften der Zivilisation angesehen wird, im arabischen Raum erfunden wurde. Und dass Mathematik kein europäisches Projekt ist, sondern zu großen Teilen ihre Geschichte in Afrika und Asien hat, ist nicht bekannt. Diese kolonialen Denkweisen existieren also weiterhin und wir stecken mittendrin.
Auch die kapitalistische Wirtschaft ist grundlegend danach strukturiert. In den 1950er und 1960er Jahren hat in der BRD die sogenannte Arbeitsmigrationspolitik angefangen. Das wichtigste Abkommen schloss die BRD 1961 mit der Türkei, um die Anwerbung von „Gastarbeitern“ zu regeln. Die Folge dieser Politik für die deutsche Wirtschaft war, dass weiße deutsche Arbeiter_innen in besser bezahlte Jobs konnten, es eine „Unterschichtung“ der deutschen Gesellschaft gab. In der kapitalistischen Konkurrenz führt Rassismus generell dazu, dass weiße Menschen die besseren Karten haben und in die besseren Positionen kommen, mit angenehmeren Arbeitsbedingungen und höherer Bezahlung (Was nicht heißt, dass Lohnarbeit im Kapitalismus etwas Sinnvolles ist).
Dass die Annahme deutsch gleich weiß immer noch so stark in unserem Bewusstsein verankert ist, hat also nicht nur was mit der vergangenen Nazi-Propaganda zu tun. Vielmehr ist sie Teil der bis heute andauernden kolonial-rassistischen Machtverhältnisse, die genauso wie der Kapitalismus dringend abgeschafft gehören.
Zum Weiterlesen:
- Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiss, erschienen 2008 bei Goldmann, 332 Seiten, 8,95 Euro.
- Unterstütze die Initiativen wie Berlin Postkolonial, Hamburg Postkolonial und Freiburg Postkolonial oder baue eigene in Deiner Region auf!
- Die STRASSEN AUS ZUCKER #9 widmet sich der Rassismuskritik
Darin u.a. die Artikel:
Süßes kommt mit Saurem
Kolonialismus und die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise
Rassistische Aussagen…
… und was man darauf antworten kann.
Stop it!
Warum es immer noch Rassismus gibt, obwohl fast niemand Rassist_in sein will
Was muss ich erleben – was bleibt mir erspart
Was es mit Critical Whiteness auf sich hat und warum wir von „Weißen“ und „Schwarzen“ sprechen, obwohl es keine „Rassen“ gibt
„Wir können doch nicht alle aufnehmen“
Von vollen Booten und leeren Tellern
Gefährlicher als Pyrotechnik
Rassismus beim Fußball
„Wenn du kein Deutsch kannst, hast du Pech gehabt.“
Interview mit einem Antira-Aktivisten über Rassismus bei Behörden
Wir sind die Nicht-Gewollten
Ein Interview mit einem Gründungsmitglied der Antifa Gençlik
black & white
Wenn in diesem Artikel von „weiß“ und „schwarz“ die Rede ist, dann sind keine Farben gemeint. Das klingt erstmal ein bisschen absurd. Zuallererst kann festgestellt werden, dass die, die als weiß gelten, eigentlich eine Hautfarbe haben, die ins Rosa geht. Dann fällt auf, dass manche Menschen, die als schwarz gelten, eigentlich eine genauso helle Hautfarbe wie weiße, manchmal sogar eine hellere als manch als weiß geltender Mensch haben. Also können „schwarz“ und „weiß“ nicht einfach Farbbezeichnungen sein. Aber was sind sie dann? Die einfache Antwort ist, dass diese „Rassen“-Theorien und das rassistische Wissen, von dem im Artikel die Rede ist, in unseren Köpfen rumspuken und uns dazu bringen, Menschen genau danach einzuteilen (und eben nicht nach unterschiedlichen Fußgrößen). Deshalb bezeichnet „weiß“ und „schwarz“ keine Farben, sondern diese rassistischen Ideen in unseren Köpfen bzw. in der Gesellschaft.