Dekadent zu sein bedarf es Wenig
Anfang Oktober 88 saßen wir; Niko, Heike, Armin, Emil, Birol, Micha, Manne und ich nicht mehr ganz nüchtern beisammen und beschlossen, einen Tag in Ost-Berlin zu verbringen. Niko, der kurz vorher schon einmal drüben war, erzählte uns, er hätte einen nicht so systemtreuen Vopo kennen gelernt, dem er 14 MS-DOS Disketten über die Grenze schmuggeln wollte. Woraufhin wir beschlossen einfach mal mit „rüberzumachen“. Der Stasi-Offizier in der Vertretung der DDR am Zoologischen Garten war zwar sehr verdutzt, als wir ihm bei der Visa Beantragung erklärten, dass wir uns „den Osten“ einfach mal aus Interesse Angucken wollten. Doch zwei Tage später war es soweit, wir konnten uns die Empfangs-Berechtigungen abholen. Wir mussten den Übergang Friedrichstr. nehmen, weil Birol einen türkischen Pass besaß und nur dort konnten West-Berliner und Ausländer aus der Selbständigen politischen Einheit Westberlin kurz Westberlin nach Berlin, Hauptstadt der DDR. Mit der U-Bahn ins Ausland reisen, das gab’s nur in Berlin!
„Ihren behelfsmäßigen Personalausweis und den Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums bitte.“ sagte der Grenzpolizist in der Kabine vor mir, während ich in einer eigenen saß. Geschlossene Einzelabfertigung, richtig unheimlich und einschüchternd. Ich gab ihm also die geforderten Unterlagen, er studierte beides, musterte mich abschätzig und fragte ob ich irgendwelche Gegenstände zum Verschenken oder Verkaufen mitführe. Ich verneinte und musste daraufhin meine Taschen leeren. „In Ordnung, Sie können Ihre Sachen wieder einstecken und ich bekomme 30,- D-Mark Bearbeitungsgebühr von Ihnen.“
Niko hatte sich die Disketten mit Klebeband auf den Rücken geklebt und mit erheblich gesteigerter Transpiration rüber geschmuggelt. Wir wollten uns gar nicht ausmalen, was wohl passiert wäre, wenn die Disketten entdeckt worden wären. Wurden sie aber nicht. Drüben, im so genannten Tränenpalast haben wir aufeinander gewartet. Die Verabredung mit unserem Diskettenabnehmer war für zwölf Uhr auf dem S-Bahnhof Alexanderplatz festgelegt. Oben auf dem S-Bahnhof Friedrichstr. erlebten wir unsere erste Verwunderung. Der Fahrkartenautomat! Der Fahrschein kostete 15 oder 20 Pfennig, aber der Automat funktionierte auf Vertrauensbasis. Man konnte Geld einwerfen, musste es aber nicht zwingend tun um einen Fahrschein zu erhalten. Den konnte man einfach aus dem Schlitz herausziehen, egal ob Geld eingeworfen wurde oder nicht. Wir lästerten und wünschten uns, in Westberlin würden auch solche Null-Tarif Automaten aufgestellt werden, bezahlten aber trotzdem. Die Wartezeit auf die Bahn verbrachten wir damit, unsere Umgebung zu mustern. Die Kleidung, die Minen in den Gesichtern, die Gespräche, alles war irgendwie anders als im Westen und trotzdem irgendwie auch ähnlich. Niko schloss währenddessen das Geschäft ab und kassierte 1.400,-Mark für 14 Disketten mit einer raubkopierten MS-DOS Version! Er gab jedem von uns einen Hunderter und grinste. Nun denn, lasst uns Kohle raus hauen, dachten wir uns und gingen los, den wilden Osten zu erkunden. Zuerst besuchten wir das Kaufhaus am Alex, wo wir konsumgeschädigten Wessis aber nichts fanden, was uns kaufenswert schien. Nur eine Erich Honecker Biografie nahm ich noch als Souvenir mit.
Daraufhin gingen wir in ein Eisbeinrestaurant gleich um die Ecke (ja, es gab dort wirklich nur Eisbein!). Vor dem Restaurant war eine lange Schlange obwohl drinnen mehrere Tische frei waren. Das leuchtete uns irgendwie nicht ganz ein. Wir passierten die Schlange und gingen einfach rein und wurden sogleich von einem der Kellner angehalten uns doch in die Schlange einzureihen. „Warum?“ fragte ich, „hier sind doch genügend Tische frei.“ „Weil Sie warten müssen, bis wir Ihnen einen Tisch zuweisen, deswegen!“ Nach etwas Trinkgeld im Vorfeld bekamen wir jedoch direkt einen Tisch, was uns bei den eifrigen Schlangestehern jedoch nicht unbedingt beliebter machte.
Gut gesättigt trank jeder noch 2 Bier und zahlten irgendwas um die 6 Mark. „Das hätte zu hause nicht mal für die Biere gereicht.“ sagte Manne, was die „Zone“ für mich etwas sympathischer machte. Danach erkundeten wir die Umgebung und blödelten rum. Ich muss sagen, wir hatten selten soviel Spaß. Gelegentlich kehrten wir in Destillen ein um Bier für 70 Pfennig das Glas nachzutanken. „Bei den Bierpreisen wundert es mich, dass nicht das ganze Volk aus Schwerstalkoholikern besteht.“ meinte Emil und wir sind fast zusammengebrochen vor lachen. „Wie wollen wir hier jemals all das Geld loswerden? Wir könnens ja nichma mit zurück nehmen!“
Schon recht blau suchten wir gegen fünf was Schickes um zu Abend zu Essen und fanden ein kleines Fischrestaurant. Vor dem Restaurant bot sich uns das gleiche Bild wie zuvor bei den Eisbeinen. Eine lange Schlange vor einem halb vollen Restaurant. Auch hier lockten wir den Kellner wieder mit D-Mark und der Aussicht auf ein gutes Trinkgeld, woraufhin wir wieder wie Könige behandelt wurden. Das Essen und der Service waren hervorragend und wir tranken noch reichlich Wein. Jetzt war es auch schon abends und wir hatten immer noch weit über 1.000 Mark. „Was jetzt?“ fragte Emil „wir müssen die Kohle loswerden!“ Gegenüber vom Restaurant machte gerade die zum Gastmahl gehörige Disco auf. Sehr gediegen, mit Kellnern im Anzug und Fliege. „Jo, hier bleim wa erstmal.“ meinte Micha. Der Kellner kam und fragte, was wir bestellen möchten. „Den teuersten Champagner den Sie haben!“ platzte es aus Emil heraus. „Champagner haben wir nicht, aber Sekt. Der teuerste ist Krimsekt, der ist aber aus. Aber ich kann Ihnen Rotkäppchen bringen“ „Gut, dann bringen Sie mal drei Flaschen für den Anfang“. Der Kellner lächelte und ging. Kurz darauf kam er mit den Flaschen und sieben Gläsern und wir soffen was das Zeug hielt.
So verbrachten wir dann den restlichen Abend und wurden dabei von drei jungen Mädels am Nachbartisch vermutlich aufgrund unseres doch etwas deplazierten Verhaltens abschätzig beobachtet. Diverse Flaschen und gefühlte 30 kaputte Gläser später mussten wir dann langsam aufbrechen und verlangten die Rechnung. „870,- Mark sind das dann und 20,- für die kaputten Gläser also sagen wir rund 900,- OK?“ Wir gaben Ihm 1.200,- und sagten unisono „Stimmt so!“ „300,- Trinkgeld? Habt tausend Dank meine Freunde und kommt doch mal wieder.“ Den Rest warfen wir auf den Tisch mit den drei Mädels und sagten: „Besauft euch auch mal!“ Wir torkelten schließlich zum Grenzübergang. In der Schlange vor dem Grenzschalter konnte kaum noch einer gerade stehen. Die Grenzer würdigten den derangierten Abgang der freien Welt keines Blickes.
Carlos